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Die Neue Große Transformation zur Ökologisch-Sozialen Marktwirtschaft

Horst Köhler, Bundespräsident a.D., Foto: Dennis Williamson

Gastartikel von Bundespräsident a.D. Horst Köhler im Magazin "land" (Ausgabe 2.20)

Wie wir Menschen gelernt haben, unser täglich Brot zu sichern, das ist eine Geschichte großer Innovationen – von der Entwicklung des Pfluges, der künstlichen Bewässerung und der Fruchtwechselwirtschaft über die Erzeugung von Kunstdüngern und Pflanzenschutzmitteln bis hin zur Mechanisierung und der jüngsten, computergestützten Präzisionslandwirtschaft. Im 20. Jahrhundert beschleunigte sich diese Erfolgsgeschichte. Immer mehr Menschen konnten von immer weniger Land und immer weniger Bauern ernährt werden.

Aber das ist nur der eine Teil der Geschichte. Es gibt auch Kehrseiten. Erstens sind die Erfolge ungleich verteilt. Während wir in Deutschland ganz selbstverständlich Produkte aus der ganzen Welt importieren und jährlich über 10 Millionen Tonnen Lebensmittel in der Abfalltonne entsorgen, gehen weltweit noch immer über 800 Millionen Menschen hungrig zu Bett. Und die Corona-Pandemie könnte zu neuen, tödlichen Hungersnöten führen.

Zweitens sind die Erfolge gefährdet: Am Horn von Afrika zerstört die schlimmste Heuschreckenplage seit Jahrzehnten die Ernten und damit Existenzen. Aber auch in unseren Breitengraden verbreiten sich durch Erderwärmung und Klimawandel neue Unkräuter und Schädlinge – 2020 werden viele Waldbesitzer unter Ihnen wieder gegen den Borkenkäfer kämpfen müssen. Hitzewellen oder Kahlfröste sind längst keine einzelnen Entgleisungen mehr.

Und drittens erkennen wir inzwischen, dass die Erfolge einen hohen Preis haben. Denn die Agrar- und Forstwirtschaft leidet nicht nur unter den Klimaveränderungen, der Degradierung von Böden und dem Verlust von Artenvielfalt. Sie trägt auch selbst maßgeblich dazu bei, etwa durch intensive Tierhaltung, den Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden oder Monokulturen. Global sind Land- und Forstwirtschaft sowie andere Formen der Landnutzung für fast ein Viertel der weltweiten Treibhausgase verantwortlich. Und der jüngst im Mai vom Bundesumweltministerium vorgestellte "Bericht zur Lage der Natur" hat offenbart, wie stark die Artenvielfalt gerade in den Agrarlandschaften Deutschlands zurückgeht. Ein Drittel aller geschützten Tierarten ist akut bedroht. Dass früher mehr Schmetterlinge herumflatterten, ist also keine nostalgische Einbildung, sondern Fakt. Weltweit droht menschliches Handeln planetare Belastbarkeitsgrenzen zu sprengen, nicht nur bei Klima und Biodiversität, sondern auch bei den Phosphor- und Stickstoffkreisläufen und der Landnutzung.

Die Antwort darauf muss eine Neue Große Transformation sein, so grundlegend wie es einst der Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft gewesen ist, von der Subsistenz- zur Industriellen Landwirtschaft. Ihr Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass sich eine Weltbevölkerung von heute fast 8 Milliarden – und bis Mitte des Jahrhunderts fast 10 Milliarden – Menschen eine gemeinsame Biosphäre teilt, mit begrenzten Ressourcen und begrenzter Regenerationsfähigkeit. Unsere Produktions- und Konsummuster werden sich ändern müssen; die Art und Weise, wie wir uns ernähren oder fortbewegen, und natürlich auch, wie wir das Land bewirtschaften.

Und wir dürfen dabei – das ist meine erste Schlussfolgerung – keine weitere Zeit mehr verlieren. Selbst nüchterne Klimaforscher weisen inzwischen darauf hin, dass sie Tempo und Folgen der Erderwärmung unterschätzt haben. Die arktischen Permafrostböden etwa beginnen schon jetzt zu tauen statt wie angenommen erst Ende des Jahrhunderts. Auch der Eisschild der Westantarktis schwindet. Damit nähern wir uns gleich zweien der gefürchteten Kipp-Punkte, bei deren Überschreitung dramatische Kettenreaktionen für unsere gesamte Biosphäre drohen. Laut dem Weltnachhaltigkeitsbericht der Vereinten Nationen von 2019 sind schon jetzt drei Viertel aller Ökosysteme geschädigt oder gar in Gefahr zu kollabieren.

Die in der Politik so beliebte Methode des Zeit-Kaufens stößt an ihre Grenzen. Mit der Natur kann man nicht verhandeln. Manche halten solche Sätze für Vorboten einer Öko-Diktatur und fürchten um ihre Freiheit. Aber was ist mit der Freiheit unserer Kinder und Enkelkinder? Wie frei könnten sie in einer Welt leben, in der Extremwetter die Regel sind, in der sich durch Umweltstress Konflikte verschärfen und hunderte Millionen Menschen einen neuen Platz zum Leben suchen müssen? „Verschieben ist verschärfen“ – so hat es der Journalist Bernd Ulrich auf den Punkt gebracht. Das gilt für die Eindämmung einer Virus-Pandemie genauso wie für die langfristig weit größeren Gefahren im Zuge der Erderwärmung. Die zentrale Frage ist: Blockieren oder verzögern wir Veränderungen – und lassen uns von den katastrophalen Folgen überrollen? Oder gestalten wir Veränderungen – und schaffen die Voraussetzungen für einen neuen, intelligenteren Umgang mit der Natur?

Sie ahnen, welche Antwort ich für besser halte. Und ich bin überzeugt, dass wir mit der Einsicht von immer mehr Menschen, mit Innovationen und neuen Erkenntnissen der Wissenschaft die Richtung der notwendigen Veränderungen bereits kennen. Damit bin ich bei meiner zweiten Schlussfolgerung: Unsere Soziale Marktwirtschaft war und ist sehr erfolgreich darin, die Menschen vor den ungezügelten Kräften des Marktes zu schützen und zugleich Wohlstand zu sichern. Das muss nun aber auch die natürlichen Lebensgrundlagen einschließen. Wir müssen also unser Erfolgsmodell zu einer Sozialen und Ökologischen Marktwirtschaft weiterentwickeln – und dabei Ökologisch gleichermaßen groß schreiben wie Sozial. Es bedarf einer vorausschauenden Ordnungspolitik mit Anreizen, Terminsetzungen und wo nötig auch Verboten. Es ist am Staat, "die Entscheidungen zu treffen, die niemand trifft, wenn der Staat sie nicht trifft" – so hat es einst der berühmte Ökonom John Maynard Keynes ausgedrückt. Ein wichtiger Schritt ist die jüngste Setzung eines Preis-Pfades für CO2, der die ökologischen Kosten von Emissionen endlich in die Gegenwart und zum Verursacher holt, der Investoren die Richtung für zukunftsfähige Technologien und Geschäftsmodelle anzeigt und nachhaltigen Produkten und Verfahren zum Durchbruch verhilft. Es ist erfreulich, dass die Bundesregierung diesen Weg endlich eingeschlagen hat.

Ich halte auch die Ziele der neuen „Farm-to-fork“ -Strategie der EU-Kommission für angemessen, im kommenden Jahrzehnt den  Einsatz von Pestiziden auf den Äckern und von Medikamenten in der Tiermast zu halbieren und den Gebrauch von Düngemitteln um 20 Prozent zu verringern. Solche Veränderungen sind einschneidend, und sie kommen gewiss nicht zum Nulltarif. Sie sind aber unumgänglich, wenn Nachhaltigkeit als Versöhnung von Ökonomie und Ökologie ernsthaft vorangebracht werden soll. Wo lokale Ökosysteme erhalten bleiben und Tiere artgerecht gehalten werden, sinkt beispielsweise die Wahrscheinlichkeit, dass sich gefährliche Antibiotika-Resistenzen bilden oder gar Krankheitserreger aus der Tierwelt auf den Menschen überspringen. Die Corona-Pandemie ist eine dringende Aufforderung, dort umzusteuern, wo die Menschen zu weit gegangen sind, sich die Natur untertan zu machen. Und es wäre eine große Chance, wenn der Begriff des „Exit“ nicht verstanden würde als Rückkehr zum Status Quo vor dem Ausnahmezustand der Krise, sondern im Gegenteil als Signal zum Aufbruch in die Neue Große Transformation.

Erzählen wir deshalb – so meine dritte Schlussfolgerung – diese Transformation als die Geschichte einer gemeinsamen und hoffnungsreichen Suche nach einem zukunftsfähigen Miteinander auf diesem Planeten. Die Vision des „Green Deal“ von Ursula von der Leyen kann Europa eine gemeinsame Richtung geben. Unser Kontinent mit seiner Innovationskraft, seinen politischen Erfahrungen und Werten sollte sich zutrauen, zum Pionier zu werden für eine  Zivilisation, die Ökologie, Ökonomie und Soziales miteinander versöhnt.

Die Corona-Pandemie hat vielen Menschen bewusst gemacht: Wir leben unwiderruflich in einer interdependenten Welt. Und auch wir werden am Ende betroffen sein, wenn die – vor allem von den Industrienationen bewirkte – Zerstörung von Natur und Umwelt ärmeren Ländern die Chance auf Entwicklung raubt. Verantwortungsvolle und vorausschauende Politik muss daher die Kraft und die Bereitschaft haben, in globaler Zusammenarbeit Lösungen zu finden, die allen Menschen auf diesem Planeten ein Leben in Würde ermöglicht, ohne ihn zu zerstören. Der politische Rahmen dafür existiert: das Pariser Klimaabkommen und die Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen, beschlossen 2015 von den Staats- und Regierungschefs. Diese Vereinbarungen setzen klare Ziele, für die Überwindung von Armut und Hunger in der Welt, für Gesundheitsversorgung und Bildung, für den Schutz der Ozeane, der Wälder und des Klimas. Es ist ein Konzept der Zusammenarbeit und des Friedens in der Welt. In diesem Konzept sind alle Nationen Entwicklungsländer – im Süden wie im Norden, im Osten wie im Westen.
Den einen großen Masterplan für die Transformation wird es dabei nicht geben. Niemand hat alle Antworten. Aber es gibt viele Ansätze, gerade auch für die Land- und Forstwirtschaft – von der High-Tech-Präzisionsdüngung über die biologische Schädlingsbekämpfung bis hin zum guten alten Fruchtwechsel. Die wichtigsten Antworten auf die vielen neuen Fragen kommen möglicherweise nicht von „oben“, sondern von „unten“, von engagierten Menschen in Städten und Gemeinden.

Ich glaube, gerade Sie als Inhaber von familiengeführten Land- und Forstbetrieben haben ein besonderes gutes Verständnis für die Balance von Ökonomie und Ökologie. Nachhaltigkeit ist in Familienbetrieben kein Modewort, sondern gelebte Geschichte. Die Bäume, die Sie fällen, stammen von den Großeltern; und die Bäume, die Sie pflanzen, werden erst Ihre Enkel ernten können. Wer also wüsste besser, wie Naturschutz und wirtschaftlicher Nutzen, wie kurzfristiger Ertrag und langfristige Verantwortung in Einklang zu bringen sind? Auch auf Ihre Antworten kommt es an. Und auch Sie haben es mit in der Hand, welche Geschichten kommende Generationen über unsere Zeit erzählen werden.

Horst Köhler, Bundespräsident a.D.

 

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